05.04.2012 | Top-Artikel | Logbuch
Das Grass-Gedicht: Wo ist die deutsche Friedensbewegung? Wo die deutsche Linke?
Ich möchte Günter Grass danken. Danken für sein aufrüttelndes Gedicht. Danken für seine klaren Worte. Danken für seinen Mut, zu sagen, was man sagen muss. Wir stehen vor einem neuen Krieg im Nahen Osten. Einem Krieg, der alles, was bisher in der Region passiert ist, in den Schatten stellen kann. Man hatte das Gefühl, die Mahner in diesem Land sind verstummt, die deutschen Medien seit Jugoslawien 1999 auf Krieg geprobt. Dann kam Grass und mahnte – und ein Tagesschau-Kommentar kritisierte die „meinungspolizeilichen Maßnahmen“ gegen ihn. Ein Schimmer Hoffnung keimt auf. Die Hoffnung, Widerstand gegen den drohenden Krieg entwickeln zu können und eine breite Öffentlichkeit gegen den Krieg zu erreichen und zu organisieren. Es ist an der deutschen Friedensbewegung und der deutschen Linken nun in die Offensive zu gehen.
Grass hat es geschafft, der herrschenden deutschen Politik einen gewaltigen Strich durch die Rechnung zu machen. Diese hoffte, schweigen zu können über das, was demnächst passieren könnte – nämlich ein verheerender Krieg im Nahen Osten. Sie hat gehofft, verschweigen zu können, dass es ihre Waffen sein werden, die dabei zum Einsatz kommen werden, so v.a. ihre atomar gerüsteten U-Boote.
Doch was tut die deutsche Friedensbewegung, was tun zahlreiche Linke? Einige freuen sich über Kommentare wie den von Frank Schirrmacher in der FAZ oder noch besser über den Antisemitismus-Vorwurf des islamophoben Berufspolemikers Henyrk M. Broder in der WELT. Wo ist die Friedensbewegung, die sich klar gegen einen Krieg gegen den Iran positioniert? Wo ist die deutsche Linke, die nach Afghanistan und dem Irak hätte begreifen müssen, dass „Terrorismus“ und angebliche Massenvernichtungswaffen Kriegsgründe sind und nicht Gegenstand einer faktenbasierten internationalen Politik? Wie konservativ, wie rechts, sind mittlerweile Teile der deutschen Linken, wenn sie den Schirrmachers und Broders hinterherlaufen? Sind nun FAZ und DIE WELT Beweisführungsstücke für linke Politik? Welchen Inhalt haben friedenspolitische Positionen, wenn sie völlig beliebig werden?
Die deutsche Linke und die Friedensbewegung müssten sich schützend und mit aller Kraft vor Grass werfen. Nein, nicht weil es Grass ist – meine Sympathie für den alten SPD-Wahlkämpfer hält sich auch in Grenzen. Auch hält sich meine Sympathie in Grenzen für jemanden, der SS-Mitglied war und dies jahrzehntelang verschwiegen hat. Aber es geht nicht um seine Biografie, nicht um seinen Werdegang, nicht um seine sonstigen politischen Ansichten. Der Angriff auf Grass, die Antisemitismus-Vorwürfe, die Beleidigungen, das Niederschreiben, all das ist ein Generalangriff der herrschenden Medien in diesem Land auf friedenspolitische Positionen. Mit Grass haben sie die eine Figur, die genug Angriffsfläche bietet und ihnen das Spiel leicht macht. Und sowieso gilt in deutschen Medien viel zu oft, dass jede Kritik am Staate Israel relativ schnell als Antisemitismus qualifiziert wird (wobei man vorher betont, dass natürlich kritisiert werden darf…). Wo aber nun der Antisemitismus in Grass‘ Gedicht sein soll, erschließt sich mir auch beim zehnten Lesen nicht. Allenfalls eine gewisse Vereinfachung – aber es ist ein Gedicht und keine politische Analyse! Und Grass will aufrütteln gegen einen drohenden Krieg. Für die Analyse sind andere zuständig, diese sind nun aufgefordert sich endlich in Bewegung zu setzen.
Was mich wundert: Ist es so schwer zu verstehen, dass die deutschen Medien nach 13 Jahren der Kriege (seit dem Jugoslawien-Krieg von 1999) jeden einzelnen positiv begleitet haben? Die Dokumentationen über die Kriegslügen wurden – wenn sie sie überhaupt gesendet haben – auf das Nachtprogramm verlegt, Wie kurz ist das Gedächtnis von Menschen? Aber zu Grass‘ Gedicht möchte ich noch einige Überlegungen und Gedanken anführen:
Es sind vor allem Fakten, die in seinem Gedicht zur Sprache kommen. Fakten, wie das bis heute dem Iran nicht nachgewiesen worden ist, die Atombombe zu bauen. Fakten, die das US-Militär und -Geheimdienste zuletzt zum Besten gaben (bspw. erst jüngst die CIA). Dennoch sagen einige Journalisten: „Naja, der Beweis ist erst da, wenn die Atombombe da ist.“ Wenn es aber so ist, dann lasst und jedes Land bombardieren, das keine Atombombe hat. Jedes könnte irgendwann die Atombombe haben. Scheint es stattdessen doch bequemer zu sein, sich an der altbewährten Polemik der Broders und ihrer geistesverwandten Kriegstreiber zu orientieren?
Grass kritisiert die deutsche Politik. Er kritisiert, dass Deutschland atomwaffenfähige U-Boote liefert, was ebenfalls ein Fakt ist. Da schreien einige Journalisten: „Die sind nur als Sekundärschlagwaffe gedacht, falls Israel mit Atombomben angegriffen wird.“ Woher wisst Ihr das, frage ich mich? Ein U-Boot, das Atomwaffen trägt, kann doch jederzeit zuschlagen. Übrigens wird auch der Besitz von Atombomben stets damit begründet, man wolle verteidigungsfähig sein. Wer behauptet schon von sich selbst Atomwaffentechnologie zu haben für einen Erstschlag?
Und dann sind da die Menschen, die sagen „Grass betreibt Propaganda, wenn er im Falle eines Krieges von der Auslöschung des iranischen Volkes spricht“. Erstens: Ja, Grass hat möglicherweise hier übertrieben. Niemand hat das Ziel formuliert, dass iranische Volk auszulöschen. Wohl aber gibt es Pläne für Bombardierungen, die weit über die atomaren Anlagen hinausgehen. Die NATO hat solche Pläne seit Jahren. So soll auch die iranische Infrastruktur getroffen werden. Zweitens aber wollte Grass sicherlich provozieren, auch ein Aspekt von Kunst. Aber man kann die Sache auch anders aufmachen: Ist „Auslöschung“ ein so fernliegendes Wort, wenn wir darüber reden, dass bald iranische Atomanlagen bombardiert werden könnten? Wissen wir seit Fukushima nicht, dass Radioaktivität sich schnell verbreitet? Haben wir alles vergessen, was vor wenigen Monaten diskutiert worden ist? Sicherlich, unmittelbar werden wenig Menschen sterben bei einer Bombardierung von Atomanlagen. Aber wie viele werden an den Folgen der Verstrahlung sterben? Wie viele Kinder werden krank auf die Welt kommen, weil das Erbgut der Eltern durch die Strahlung verändert wurde?
Dann spricht Grass davon, dass Israel den Weltfrieden gefährdet. Da sagen einige: „Zumindest hätte er sagen müssen, dass auch der Iran den Weltfrieden gefährdet“. Aber ich frage: Wer droht die ganze Zeit mit Krieg? Keine Frage, das iranische Regime besteht zum Teil aus Holocaustleugnern, aus Verbrechern, die Menschenrechte mit Füßen treten. Aber wann hat es ernsthaft mit Krieg gedroht – und nicht nur mit Vergeltung im Falle eines Krieges oder mit Maßnahmen wie der Blockade der Seestraße von Hormus? Abgesehen davon ist die „Gefährdung des Weltfriedens“ eine gängige Formulierung aus der UN-Charta, jede UN-Intervention wird mit der „Gefährdung des Weltfriedens“ argumentiert. Es ist somit ein juristischer Begriff, es geht nicht darum, dass weltweit der Frieden gefährdet ist, sondern regionale Konflikte reichen hierfür schon. Doch abgesehen davon hätte ein Krieg tatsächlich gravierende globale Auswirkungen!
Denn niemand fragt zurzeit: Was für eine Eskalation wird der Krieg gegen den Iran auslösen? Gerade hier zeigt sich, welche dramatischen Folgen ein Angriff Israels und der USA auf den Iran haben würde. Werden iranische Truppen einmarschieren in Bündnisstaaten der USA oder in Staaten in denen US-Truppen stationiert sind? Wird der Irak sich an die Seite des Iran stellen? Wird Syrien noch brutaler gegen seine Opposition vorgehen, um dann loszuschlagen? Wie werden die saudischen Truppen antworten, hochgerüstet durch die USA (und bald auch durch deutsche Kampfpanzer)? Kurz gesagt: Wir stehen vor einem gewaltigen Flächenbrand. Vielleicht sogar, keiner will es hoffen, dem Einstieg in einen Weltkrieg. Doch nicht hören, nicht sehen, nicht verstehen wollen - das scheint weit verbreitet.
Grass verdient keine Schelte. Die Schelte verdienen diejenigen, die gegen ihn schießen, die einen Krieg wollen oder billigend in Kauf nehmen. Um deutlich zu sein: Günter Grass verdient „eher mehr Preise als weniger“ (Thomas Nehls, Tagesschau-Kommentar).Wie wäre es tatsächlich mit dem Friedensnobelpreis?
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